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Predigt: Ein Wurzel verbindet uns – und was noch?

Predigt von Pastor Markus Bauder gehalten am 12.03.2023 in der Hoffnungskirche.
Text/Thema: Eine Wurzel verbindet uns – und was noch? Gen 16,6b-11.13; Lk 10,25-28
Die Predigt hier auf unserem YouTube-Kanal anhören.

Grundgedanke: Judentum, Islam und Christentum sind so etwas wie Schwesterreligionen. Christen haben im Liebensgebot eine Aufforderung, letztlich mit allen Menschen guten Willens zusammenzuarbeiten. Dazu passt ganz gut das ethische Konzept der common aims.

Über den heutigen Predigttext aus dem 1. Mosebuch habe ich schon mal zu Beginn des Jahres gepredigt. Weil in dem Text und der Geschichte von Hagar die aktuelle Jahreslosung vorkommt.

Hagar ist aufgebrochen aus ihrem alten Leben. Ihre Not war so groß, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sah als wegzugehen.

Aufbrechen aus der Not heraus. Eines der häufigsten Motive für eine Aufbruch. 80-100 Millionen Menschen sind zurzeit auf der Flucht. Aufgebrochen aus der Not heraus.

Menschen sehen in ihrem bisherigen Leben keine Perspektive mehr. Krieg, Verfolgung, Hunger. Nicht immer müssen sie dazu ihr Land verlassen. Manchmal bedeutet der Aufbruch auch, den Arbeitsplatz zu wechseln. Oder die Familie. Oder manche Dinge nicht mehr zu tun. Aus einer Not heraus. Die eigene Situation ist so schlimm, dass man für sich keine andere Möglichkeit mehr sieht als wegzugehen. Not ist auch bei unserem kirchlichen Aufbruchsprogramm ein Motiv: wir werden in absehbarer Zeit zu wenig ordinierte Pastor:innen sein. Zu wenige für zu viele Gemeinden. Auch eine Not.

Nicht jeder Aufbruch gelingt. Viele Menschen scheitern. Menschen verlieren in ihrem Aufbruch unter Umständen alles. Der Traum ist ausgeträumt. Man ist auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Besonders schlimm ist, wenn man alleine ist. Niemand will das. Auch wir natürlich nicht.

Hagar bekommt Hilfe. Von Gott. Sie ist danach eine völlig andere. Auch wenn sie in ihr altes Leben zu Abraham und Sara zurückkehrt. Sie ist in ihrem Aufbruch gewissermaßen geadelt worden: Gott, der Herr, spricht mit ihr. Einer Frau. Und er segnet sie. Mit demselben Segen, mit dem Abraham gesegnet wurde. Sie wird gewissermaßen mit Abraham auf eine Stufe gestellt. Und durch diese Begegnung kann Hagar Gott einen Namen geben: Der Gott, der mich sieht. Sie wird zur Gotteserklärerin – auf deutsch zu einer Theologin.

Aufbruch aus der Not heraus und doch gesegnet. Verwandelt. Mit einem neuen Auftrag ausgerüstet. Einer der vielen Aufbrüche, von denen in der Bibel erzählt wird.

Sie und ihr Sohn Ismael werden zu Urmutter und Urvater eines neuen Volkes. Den Arabern. Ihr Grab ist unweit der Kaaba in Mekka, in Arabien.

Sie gelten als die Urmutter und Urvater der Muslime.

Muslime und Juden – religiöse Geschwister. Stiefgeschwister. Derselbe Vater, verschiedene Mütter. Mit allem, was dazugehört. An Gemeinsamkeiten und Spannungen.

Und wir Christen gehören auch dazu. Als einer Religion, einem Glauben, der sich aus dem Judentum ableitet.

Auch wenn wir uns nicht direkt als Abrahams Kinder verstehen…

Gibt es eigentlich etwas, das wir von unseren Stiefgeschwistern lernen können? Bei unseren Aufbrüchen? In unserer Situation.

Gibt es etwas, das uns beeindruckt? Im Judentum? Im Islam? Und was ist das Besondere bei uns?

Ich weiß, dass es Menschen gibt, die allein schon diese Frage verwerflich finden. Weil sie Sorge haben, dass hier Dinge miteinander vermischt werden, die man nicht vermischen darf.

Weil es ihnen um die Reinheit des Glaubens und um die Wahrheit geht.

Ich sehe das anders. Zum einen bleibt uns ja gar nichts anderes übrig. Denn wir leben in einer multireligiösen Gesellschaft.

Und dann gibt es ja den Glauben in Reinform nirgends. Weder in meinem Leben, noch bei jemand anderen. Auch in der Kirche gibt es den Glauben nie in Reinform. Was immer das auch sein soll? Jeder glaubt auf seine Weise. Wir müssen uns verständigen. Gemeinsamkeiten finden. Unterschiede feststellen.

Und über die Wahrheitsfrage denke ich heute auch anders als früher. Sicher mag es im Himmel eine objektive Wahrheit geben. Aber hier auf der Erde sehen wir, wie Paulus es sagt, dies immer nur durch einen Spiegel. Der mehr oder weniger trüb ist. Niemand sieht die ganze Wahrheit. Niemand kann Wahrheit in einem exklusiven Sinn für sich beanspruchen. Keine 2 Menschen erkennen die Dinge ganz genau gleich. Spätestens bei 2 unterschiedlichen Personen wird Wahrheit eher zu einer Übereinkunft. Immer eine Mischung aus Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Ich erkenne Wahrheit höchstens nur für mich selbst.

Es geht ja auch gar nicht anders. Denn man verknüpft alles, was man sieht oder erkennt immer mit dem, was man schon kennt. Was in einem ist. Und diese Mischung in uns ist einmalig… So funktioniert auch lernen oder Erkenntnis.

Das bedeutet für das Gespräch mit anderen, dass wir immer Anknüpfungspunkte brauchen. Gemeinsamkeiten. Eine gemeinsame Sprache. Aber auch gemeinsame Vorstellungswelten. Eine gemeinsame Kultur. Weil unser Gegenüber uns sonst gar nicht verstehen kann. Wenn sich jemand unter dem Wort Kirche oder Jesus Christus oder Glaube nichts vorstellen kann oder sich etwas völlig anderes vorstellt als wir, ist eine Verständigung schwer.

Wir leben heute in einer Welt, in der die Verständigung schwierig geworden ist. Unterschiedliche Religionen, unterschiedliche Kulturen, sehr unterschiedliche Sprachen und Vorstellungen vom Leben. Und das – anders als noch in früheren Zeiten – am selben Ort. In Stuttgart.

Wie sollen sich z.B. die Stiefgeschwister Christentum, Judentum, Islam verständigen? Was können sie voneinander lernen? Was ist das Besondere?

Für mich macht z.B. Jesus Christus den Unterschied. Seine Art mit Menschen umzugehen. Die Dinge beim Namen zu nennen. Seine Art, uns Gott nahe zu bringen. Ja für mich ist Jesus Gottes Sohn und damit Gott selbst.

Aber – Jesus hatte kein Problem mit dem Judentum. Er war selbst Jude. Und hat anscheinend kein Problem damit, dass wir keine Juden sind.

War Jesus eigentlich Christ? Jedenfalls war er kein heidnischer Christ im Sinne des Apostelkonzils aus Apg 15. Wir brauchen uns als heidnische Christen nicht beschneiden zu lassen und keine Speisegebote zu halten. Wir halten auch nicht das Sabbatgebot – das wichtigste jüdische Gebot.

Hat Jesus alles gemacht… Was sagt Jesus eigentlich dazu, dass wir Gebote, die er gehalten hat, nicht halten?

Was hätte Jesus wohl zu seinen Stiefgeschwistern, den Muslimen gesagt?

Mit Sicherheit wäre er dagegen gewesen, dass man Ungläubige umbringen soll oder anlügen darf. Aber sonst?

Mich beeindruckt z.B. dass gläubige Muslime und Juden ihren Glauben recht öffentlich und konsequent leben. Man sieht es, wenn sie bestimmte Gebote halten: kein Schweinefleisch, Gebetszeiten, koscheres Essen, Feiertage, Fastenzeiten.

Für uns Christen scheinen Regeln und Gewohnheiten keine soo große Rolle mehr zu spielen. Ja, mitunter meinen wir sogar, dass es gut ist, wenn man uns unseren Glauben gar nicht ansieht. Und gut ist es auch, wenn wir nirgends laut sagen müssen, dass wir als Christen leben. Vor allem nicht, wenn irgendwo Nichtchristen herumlaufen.

Z.B. sagt mir jemand: „Normalerweise beten wir vor dem Essen, aber wenn Besuch kommt, der nicht in die Kirche geht, dann nicht. Wir wollen sie ja zu nichts zwingen.“ „Normalerweise gehe ich in die Kirche, aber wenn ich am Sonntag Gäste bekomme, dann bleibe ich zuhause, weil ich denen ja nicht zumuten kann, dass es später Essen gibt.

In Kitas und Schulen sollen keine christlichen Weihnachtslieder gelernt oder gesungen werden, und was Karfreitag oder Ostern bedeutet, soll man nicht erklären. Man möchte Nichtchristen oder gar anders religiöse Menschen nicht beeinflussen. Man will oder muss neutral bleiben.

Halte ich für völlig falsch. Den Mut und auch den Stolz auf das eigene Bekenntnis, das könnten wir eventuell von Juden oder Muslimen lernen. Denke ich jedenfalls.

Das Besondere bei uns? Nun wie gesagt: Jesus Christus. Und die alternativlose Konzentration auf die Liebe. Die in der Feindesliebe gipfelt. Und im Doppelgebot der Liebe eine klare Zusammenfassung hat. Gott lieben. Den Nächsten lieben wie man selbst geliebt wird. Die Liebe, das bedeutet ganz eindeutig, nicht in der Abgrenzung zu leben, sondern in einer großen Offenheit. Gott zugewandt, den Menschen zugewandt. „Zu Lieben sind wir da“.

Das bedeutet, dass sich unsere Begegnungen, unsere Aktivitäten, unser Engagement mit unseren Mitmenschen nicht an ihrem Glauben orientieren, oder an dem wie sie letztlich zu uns stehen, sondern an ihrer Bedürftigkeit. Daran, ob wir ihnen zu Nächsten werden oder nicht. Werden können oder nicht. Ob wir an anderen oder mit anderen zusammen Liebe üben können. Nächstenliebe üben können.

Daran misst sich übrigens auch die Frage, ob wir mit anderen Gruppen, die keine Christen sind, Projekte durchführen können oder nicht.

Ich bin da mal auf den ethischen Ansatz der „common aims“ gestoßen. Der besagt, dass man gemeinsame Ziele haben kann auch wenn man zu völlig unterschiedlichen Gruppen gehört. Dass also durchaus hinter den Zielen, die man gemeinsam formuliert, trotzdem unterschiedliche Motive stehen.

So geschieht es z.B., wenn verschiedene Menschen in der Flüchtlingshilfe aktiv sind: der eine tut es als Christ und will aus christlicher Nächstenliebe einem Menschen helfen. Ein anderer sieht vor allem das Soziale. Einem anderen ist zuhause langweilig. Und ein vierter ahnt, dass wir dringend mehr junge Menschen in Arbeit brauchen und möchte zur Integration beitragen…

Gerade solche Projekte fördern übrigens das Gespräch über den Glauben, wenn man sich als Christ nicht versteckt. Weil eben ganz verschiedene Menschen und Motive sich für ein gemeinsames Ziel engagieren.

Auf dieser Ebene können übrigens auch unterschiedliche Religionen gut miteinander arbeiten. Wenn z.B. das gemeinsame Ziel das friedliche Miteinander in einer Gesellschaft ist. Oder sie radikalen Tendenzen einen Riegel vorschieben wollen. Oder sie sich gemeinsam für das Klima einsetzen oder für ein gute Gemeinwohl in einem Stadtviertel. Common aims – wenn wir gemeinsame Ziele haben, können wir gut mit anderen zusammenarbeiten. Auch wenn wir unterschiedliche Motive haben.

Über allem die Liebe. Im Wesentlichen Einheit, im Unwesentlichen Freiheit. So hat es John Wesley formuliert. Das Wesentliche können auch gemeinsame Ziele sein.

Über allem und vor allem die Liebe. Das bringen wir ein.

Vielleicht fragt Ihr Euch, was das alles jetzt mit Hagar zu tun hat? Nun – Hagar ist aus der Not und weil sie mit Sara nicht mehr zurechtkam und von ihr gequält wurde geflohen. Sie hat das Miteinander aufgekündigt. Und sie wurde vom Engel Gottes, von Gott selbst, zurückgeschickt. Dabei wurde sie von Gott auf Augenhöhe mit Sara gehoben. Im Grunde sogar mit Abraham. Von da an waren sie wieder gemeinsam unterwegs. Die Urmutter des Judentums und die Urmutter des Islam. Und sind die Dinge gemeinsam angegangen. Selbstbewusst und demütig zugleich. Man könnte das Wort demütig auch mit „dien-mutig“ wiedergeben.

So sollen wir auch als Christen leben: mit allen anderen Menschen, gesellschaftlichen Gruppen, Religionen zusammen. Nicht in der Abgrenzung, sondern gemeinsam. Selbstbewusst und „dien-mutig“.

Das soll auch für unsere Aufbrüche gelten: selbstbewusst und dien-mutig.

Dazu segne uns Gott. Amen

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