Pastorin Katharina Sautter, Hoffnungskirche und Friedenskirche 27.August und 3. September 2023)
Lesung Genesis 4,3-16
Ihr Lieben,
die Welt ist ungerecht! Und ja: Er ist wütend. Kain.
Und ich weiß, warum er sich so fühlt. Ich kenne das. Das ist auch meine Wirklichkeit – und die von vielen Menschen – glaube ich: Es fühlt sich genauso an: Die andere/der andere hat mehr, alles, ihr gelingt das Leben, er wird gesehen, es geht ihr/ihm super gut – und ich? Aus menschlicher Sicht ist das so und fühlt es sich genau so an: Diese Welt ist nicht gerecht!
Kain.
Was macht diese Erkenntnis mit mir, wenn ich diese vermeintliche Ungerechtigkeit schmerzhaft wahrnehme? Was löst diese Wahrnehmung in mir aus? Welches Gefühl überkommt mich?
Ist es Wut und Ärger wie bei Kain? Lässt mich die Angst, zu kurz zu kommen und den Ärger über „die anderen“ zu vehementen Aussagen und Mitteln greifen? Schließe ich mich denen an, die propagieren, dass wir uns bewusst auf uns konzentrieren müssen und andere ausgrenzen, damit unser Wohlstand garantiert bleibt. Ich beobachte mit Sorge die Ergebnisse der Politikbarometer – denn diese scheint das zu bestätigen.
Liebe Gemeinde,
ganz ehrlich: Es ist eine fiese Situation, in der Kain da steckt: Es ist nicht fair, dass sein Bruder mit seinem Dankopfer von Gott angesehen wird, und er sich Mühe gibt und Gott ihn nicht wahrnimmt. Es ist nicht gerecht und Kain fühlt sich (aus meiner Sicht) zu Recht nicht gerecht behandelt. Er ist zutiefst verletzt. Angesichts dieses Gefühls ist es absolut nachvollziehbar, Wut zu empfinden. Kain ist verletzt, neidisch, wütend, weil er sich benachteiligt fühlt. Für mich ist das verständlich. Auch ich kenne dieses Gefühl der Wut über Ungerechtigkeit, weil es scheinbar anderen leichter fällt, es ihnen einfach so besser geht…
Doch erlaube ich mir, mich ungerecht behandelt zu fühlen? Erlaube ich mir sogar, mich von Gott ungerecht behandelt zu fühlen? Ihr Lieben, Ich glaube, dass bei der Antwort auf diese Frage meine Prägung, die Geschichten, die ich von Gott gehört habe, die Vorbilder, die mich und meinen Glauben geprägt haben, meine Erziehung einiges dazu beitragen, wie ich diese Frage für mich beantworten werde. Es lohnt sich dennoch einmal diese Frage zu stellen: Erlaube ich mir (ist es mir erlaubt/war es mir erlaubt) mich von Gott ungerecht behandelt zu fühlen?
Wie auch immer ich diese Fragen beantworte: Dass die Ungerechtigkeit in mir Gefühle weckt, ist nicht nur menschlich, sondern – ich meine – lebenswichtig. Denn Gefühle sind Reaktionen, die mich auch schützen.
Eine Gefühlsreaktion ist not-wendig um mit dieser Situation und Erkenntnis der Ungerechtigkeit umzugehen.
Ihr Lieben, Weil wir unterschiedlich sind, reagieren wir auf dieses große Gefühl auch unterschiedlich.
Ist da Wut? Zorn? Oder fühle ich in mir eine Enge in meiner Brust, die mir die Luft zum Atmen nimmt? Verstumme ich? Bin ich gelähmt vor diesem Empfinden? Verschließe ich die Augen vor der Realität. Bin ich Blind, Stumm, Taub?
Ihr Lieben, die eine zieht sich zurück und verfällt in eine Art Opferrolle: Es ist immer so bei mir – ich bin eben immer benachteiligt – es war klar.
Manche werden stumm und ergeben sich in ihr leiden.
Die anderen entwickeln ein Feindbild und projizieren ihre Wut und ihren Frust darauf. Aggression spielt dann da mit hinein – wie bei Kain.
Liebe Gemeinde, in all diesen Reaktionen steckt eine große Ressource und Energie – sie kosten Kraft und tragen Kraft in sich. Wenn es mir gelingt, diese Kraft umzulenken.
Kain ist gefangen in seinem Gefühl von Wut – und bleibt in seiner Aggression. Er kann Gott nicht mehr in die Augen schauen. Und ich vermute, sich selbst auch nicht. Er ist so gefangen in sich – in seinem Zorn – oder ist da vielleicht auch Scham? Kain ist isoliert in diesem Gefühl.
Und Gott? Gott tritt als derjenige auf, der Kain sieht. Er sieht ihm an, dass da etwas nagt. Aber er beurteilt das, was er sieht nicht – er fragt nach. Gott fragt nach: Kain, was ist los? Er verurteilt nicht, dass Kain so reagiert. Gott nimmt wahr. Ihr Lieben, Gott bietet Kain mit seinem Fragen einen Ausweg an. Er wendet sich ihm zu. Er holt Kain aus der Isolation seiner Gefühle. Aus seiner eigenen Isolation. Durch direktes Fragen werden die Wut und die Aggression greifbar.
Und ich frage mich, ob das neben den schon erwähnten Reaktionen auf die gefühlte Ungerechtigkeit der Welt auch mein Ausweg sein kann – Raus aus dem Gefangensein in meinen Gefühlen: in Kommunikation zu gehen. Mit einem anderen Menschen. Mich in meiner Überforderung mit meinen Gefühlen, meiner Hilflosigkeit, an jemanden zu wenden, der mit mir Fragen stellt, die meine Reaktion und meinen Gefühlen auf den Grund gehen. Die mir hilft, mich zu erforschen in meinen Reaktionen. Damit sie nicht mehr so übermächtig sind, so voller negativer Energie. Damit sie greifbar werden, nachvollzogen oder zumindest eingeordent werden. Gott stellt Kain solche Fragen. Er wendet sich Kain zu und forscht mit ihm. Ihr Lieben, Jesus, Gottes Sohn, hat es auch so getan, wenn er mit Menschen in Kontakt kam. Jesus fragt den Blinden:
Was willst du, was ich dir tue? Er fragt, weil es Teil der Heilung, Teil des Auswegs ist, auszusprechen, was Not tut. Auszusprechen, was in mir ist, damit ich aus der Isolation in die Begegnung komme. Jesus hat auf diese Weise viele Menschen begleitet und sie geheilt. Gott bietet Kain hier diese Hilfe an.
An wen kann ich mich wenden, wenn ich jemanden brauche. Jemanden, der mich nicht beurteilt in dem, was und wie ich empfinde, sondern mit mir fragt. Und ist es für mich eine Möglichkeit, mich an eine Beratungsstelle oder an eine Seelsorgerin zu wenden – bevor es zum äußersten kommt – bevor es über mich kommt und ich töte – in Worten, in Taten?
An wen kann ich mich wenden?
Mit meiner Scham. Mit meiner Aggression. Mit meiner Wut? Dem Wunsch, zu töten?
Denn wenn ich so Gefühle anschaue und vielleicht verstehen lerne, dann verlieren sie Macht über mich.
Ihr Lieben, die Geschichte von Kain und Gott bietet auch mir einen Weg an, mit meinen Gedanken und Gefühlen, die ich zurecht habe, umzugehen. Gott bietet auch mir wie Kain Kommunikation und Beziehung an. Nicht allein zu bleiben in meinem Fragen, sondern ehrlich zu sein: zu mir selbst, zu anderen und Gott selbst zu antworten.
Weil er auch mich fragt: Was bewegt dich? Warum schaust du zu Boden? Was beschäfigt dich so sehr, dass du dich ungerecht behandelt fühlst?
Und ich? Kann ich ehrlich sein? Und mich öffnen? Oder verschließe ich mein Herz? Bin ich so gefangen, wie Kain, dass ich keinen anderen Ausweg mehr finde? Oder lass ich mich in Beziehung bringen? Mit mir selbst? Mit Gott und meinem Gegenüber?
Ich glaube, dass das die Chance ist und es wert ist mit dem Gefühl von Ungerechtigkeit in dieser Welt umzugehen. Und meine Idee ist, dass das diese Welt verändern würde- dass diese Welt dadurch ein bisschen besser wird. Weil wir über unseren Missmut nicht schweigen, die Ungerechtigkeit, die wir empfinden, benennen, darüber reden – und nicht bei uns stehen bleiben.
Liebe Gemeinde,
wir wissen und haben gehört, sie die Geschichte ausging. Ich frage mich, ob die Geschichte von Kain und Abel auch hätte anders ausgehen können. Was wäre gewesen, wenn Kain mit einem Freund darüber geredet hätte – oder auf Gottes zugewandtes Fragen geantwortet hätte. Wenn er erzählt hätte von seiner Wut und seiner Traurigkeit und seinem Gefühl, zu kurz zu kommen?
Wäre er mit seinem Bruder Abel irgendwann ein Bier oder einen Kaffee trinken gegangen und hätte Abel gefragt, wie es ihm eigentlich damit geht. Was Abel über die Situation denkt. Was Abel bewegt? Was die Wirklichkeit, die Sicht des Abels auf die Situation ist?
Wäre das ein Reich Gottes Ausblick?
Ich glaube: Ja! Damit würden wir den Kreis derer durchbrechen, die bei dem Gefühl stehen bleiben, ungerecht behandelt zu werden und sich dagegen wehren zu müssen. Ich glaube, dass wir Wege finden können, um miteinander gerechte Lösungen finden können – die uns nicht gegeneinander, sondern miteinander reden und handeln lassen.
Ich glaube, dass wir dadurch Gottes Idee von Zugewandtheit und Kommunikation in die Welt tragen. Ich glaube, dass mit meiner eigenen persönlichen Erfahrung von heilsamen Gesprächen und Begegnungen sich heilsam in dieser Gesellschaft auswirken. In unserer Gemeinde und unseren Familien.
Liebe Gemeinde, in der Welt fühlt sich manches ungerecht an! Und ja: das weckt in uns Gefühle. Kain. Und Gott. Er wendet sich Kain zu, um ihm einen guten heilsamen Umgang mit diesen Gefühlen zu zeigen. Kain. Gott. Und ich?
Amen
Lied Befiehl du deine Wege 1,2,7 und 8